Es ist drei Uhr morgens und der alte Mann schaut aus dem Fenster. Eine einsame Straßenlaterne leuchtet in der Dunkelheit. Weil es stark regnet ist es sehr dunkel und so fällt die Laterne besonders auf. Nur eine Lampe brennt, alle andern warten bis fünf Uhr, dann beginnt der neue Arbeitstag.
Der Mann schätzt diese Tageszeit sehr. Alles ist ruhig! Die Menschen schlafen, der Straßenverkehr ruht. Der Mann kann ruhig denken, nachdenken, sein! Er fühlt sich nicht allein und auch nicht einsam. Die Welt, die er sieht, ist um diese Tageszeit schwarz-weiß. Einfach. Klar.
Der letzte Besuch bei R. kommt dem Mann in den Sinn. R.,
ein langjähriger Freund, ist dreiundneunzig Jahre alt, Witwer und er wohnt
allein in seinem Haus. Mit seinen vier Kindern und den sehr zahlreichen
Enkelinnen und Enkeln pflegt er sehr gute Kontakte. Sie verwöhnen den alten
Mann und er spürt ihre Liebe. Und trotzdem, er fühlt sich oft einsam… vor allem
nachdem seine Besucher wieder gegangen sind. Dann sitzt er allein im Wohnzimmer,
fühlt sich sehr einsam und in diesem Moment stellt er sich den großen Fragen
des Lebens. Warum lebe ich noch? Wie habe ich das verdient? Was kommt auf mich
zu? Er fragt sich auch, wie könnte er seine Einsamkeit überwinden? Soll er mit
jemandem telefonieren? Was denkt der andere Mensch von ihm? Dieses Gefühl der
Einsamkeit tut weh. Es geht nicht mehr weg. Das Gefühl verstärkt sich
höchstens. Was kann R. tun? Selbstmitleid hilft nicht. Vielleicht wenn er sich
in Dankbarkeit übt. Loslassen, Geduld, nichts mehr erwarten, selber den ersten
Schritt tun…
Er muss selber etwas gegen die Einsamkeit tun.
«Jetzt muss ich wieder in mein Elend», so verabschiedete sich die Schwiegermutter des alten Mannes jeweils nach dem Nachtessen. Sie wohnten bis zu ihrem Tod im selben Haus und dies seit über dreißig Jahren. Es war eine wunderbare Zeit. Nie Streit, nie ein böses Wort, sehr viele gemeinsame und schöne Erlebnisse prägten das drei Generationen Haus. Eine ideale Lebensform. Dann der jähe Einbruch der Lage mit dem Tod ihres Ehemannes. Nichts war mehr gleich. Der kurze Spitalaufenthalt und der schnelle Tod verwirrten die ganze Familie.
«Mein Elend» – das Alleinsein in der Wohnung – eine Einsamkeit während Stunden nur und trotzdem einsam! Drei Jahre lebte die Schwiegermutter bis zu ihrem überraschenden Tod.
Wie geht es alten Menschen, deren Kinder in fernen Ländern leben und die sie nur noch selten sehen? Für sie ist das Reisen zu mühsam und die Kinder und Enkel sind finanziell nicht in der Lage oft nach Hause zu den Eltern zu reisen. Der Tod wird das alte Paar auseinanderreißen und die Einsamkeit schlägt zu. Brutal! So klar absehbar. Aber was tun? Mit den modernen Kommunikationsmitteln, wie z.B. «Skypen» könnte man das Leben verbessern. Aber die Technik!
Der Herbst verstärkt die Gefühle der Einsamkeit. Das nasse, kühle Wetter, die frühe Dunkelheit erschweren das aus dem Haus gehen. Im Haus drin aber greift die Einsamkeit um sich. Bald kommt die Weihnachtszeit, aber nichts ist mehr wie früher. In dieser Zeit ist die Einsamkeit noch quälender.
Der alte Mann steht immer noch am Fenster und schaut auf
die dunkle Straße hinab.
Wie wird es ihm einmal ergehen? Kann man sich auf die Tage der Einsamkeit
vorbereiten? Wie kann er die Batterie der Lebensfreude auftanken?
Fragen über Fragen.
Müde geht der alte Mann zurück ins Bett.
Text von Marcel Fantoni: https://www.marcelfantoni.ch/blog